Besuch auf dem Zobten

2

Korukor Schwarzmantel unter der Jegenbachbrücke (wie eine etwas ausführlichere, keinesfalls aber als vollständig zu bezeichnende Version seines Namens lautete) kam die letzten ein-, zweihundert Meter seiner Reise – von der heruntergekommenen Kirche am Rande des Gipfelplateaus bis zum Aussichtsturm – in ziemlich gemächlichem Tempo gelaufen. Er hätte sich nach all den hunderten von Tausendstäben, die er von zu Hause her zurückgelegt hatte (ein Tausendstab seiner Rechnung entsprach ungefähr einem halben Kilometer menschlicher Zählweise), entspannt fühlen können, doch das war nicht der Fall. Wenn er die letzten Stäbe nicht schneller zurücklegte, dann lag dies vor allem daran, daß er nicht mehr wußte, was er seinen Gastgebern eigentlich sagen wollte, und die Gründe dafür hatten ihn zornig – und leider auch hilflos – gemacht. Hilflosigkeit aber war etwas, das einen von seinem Kaliber noch obendrein ärgerte, und so tönte sein Grollen durch den Gipfelwald, und die Schläge, die er Bäumen versetzte, die sich in Reichweite seiner gewaltigen Pranken befanden, ließen diese erzittern.

Er war nicht groß, Jüngster aus dem alten Geschlecht der Schwarzmantels, das seit den Zeiten, da der Mensch den Bach getauft und die Brücke gebaut hatte, in jenem Landstrich lebte, den die Kurzlebigen Niedersachsen nannten. Nicht weit von Eschwege am Rande des Harzes kam er her, war gelaufen, die ganze Strecke, was nach Menschenart jedoch Rennen bedeutete, viele Stunden der Nacht und einige des Tages, wenn das Gelände genügend verlassen erschien, hatte unter Felsen geschlafen und wesentlich zufriedener unter Brücken, wenn eine zu finden war, unter der nicht nur eine der allzuglatten Straßen der Kurzlebigen durchführte oder einer ihrer Schienenwege, einmal hatte er auch einen Baum erklettert, was ihm nicht schwerfiel, und es sich auf einem dicken Ast bequem gemacht, was ihm nichts ausmachte, wenn es nicht zu häufig vorkam, und das wäre auch völlig in Ordnung gewesen, hätte es nicht ausgerechnet an jenem Tag eine dieser Veranstaltungen der Menschlinge gegeben, bei denen sie in Scharen, nur mit Kompaß und irgendwelchen Richtungsanweisungen versehen, über Stock und Stein um die Wette rannten, und zwar eben gerade nicht auf ihren Wegen, sondern mitten durch die verbliebenen Hallen des Waldes; es waren nicht viele gewesen, die in seine Nähe kamen, aber um seinen Schlaf war es geschehen gewesen, und er hatte ernsthaft erwogen, sich dem einen oder andren von ihnen zu zeigen. Ihr Guten Erdgötter! Wenn er ihre schweißnassen, vor Anstrengung verkrampften hageren Gesichter vor sich sah (die Menschen, die solche Übungen auf sich nahmen, schienen immer höchst ausgezehrt und hager zu sein!), dann stellte er sich ganz mühelos vor, wie sie sich hinterher fragten, ob sie im Rausch ihres Laufens nicht einer massiven Illusion erlegen waren, ob sie halluziniert hätten, als sie sahen, was sie zu sehen glaubten: er, Korukor, war, wie gesagt, nicht groß, höchstens etwas über drei Stäbe hoch, aber er wirkte zumindest annähernd breit, obgleich dies nichts als Muskelstränge waren, pure Kraft unter schuppiger schwarzer Haut, glänzend, von Kleidung nicht verdeckt; Zehen und Finger von angemessener Länge zum Kampf und mit passenden scharfen Nägeln versehen, nicht solche Pfötchen, wie die Kurzlebigen sie besaßen, selbst wenn sie größer waren und sich für stark hielten; grünblaue, ästhetisch tief in den Höhlen liegende Augen unter mächtigen brauenlosen, wulstigen Stirnmuskeln (er bildete sich etwas drauf ein, daß die Weibchen deshalb so sehr auf ihn flogen!), darunter die gewaltige Nase, die ihm gleichwohl zu klein war und der Mund mit den blendendweißen, nadelspitz zulaufenden Zähnen. Es hieß von seinesgleichen, daß nachts nur ihre Zähne unterwegs seien, und was immer daran wahr sein mochte, sie ließen sich darüber nicht aus. Während dieser Menschenaktion allerdings war es Tag, wenn auch trübe, und die Betroffenen hätten mehr zu sehen bekommen, den ganzen Troll, und sie hätten darum gebetet, daß der Anblick tatsächlich eine Halluzination gewesen wäre!

Er hatte auf den Spaß verzichtet, um seiner Absichten willen. Man konnte nie wissen, was den Kurzlebigen einfiel, dies geschah in den Wäldern Brandenburgs nahe ihrer Grenze zu dem Land, das heute Polen hieß, und am Ende hätte irgendjemand eine Schmugglerjagd angefangen. Irgendwann konnte er wieder schlafen, und in der Nacht war er fort.

Er war so sehr gerannt, weil eine Gefahr aufgekommen war. Während des ganzen langen Laufs mochte er nicht recht glauben, was er erfahren hatte. Als vor kaum ein paar Tagen die Gerüchte in den Verborgenen Gasthöfen rund um den Harz erstmals zu hören waren, hatte er gleich den meisten anderen Gästen gelacht und die Berichterstatter als "Angstflatterlinge" aufgezogen. Aber nach Hause unter seine Brücke zurückgekehrt wartete an jenem Abend bereits ein Abgesandter des Trollrats auf ihn, und alleine das war schon ein Schock. Es gab diesertage viele Probleme, eigentlich immer mehr, seit die Deutschen diese vertrackte Grenze beseitigt hatten, die ihnen allen, die "vor der Grenze" lebten – womit sie natürlich eine ganz andere Barriere meinten als jene lächerlichen Drähte und Schießanlagen –, immerhin einige Ruhe in jenem Streifen des Landes verschafft hatte, in dem die Uhren anders gingen, wie es bei den Kurzlebigen so treffend hieß. Sie wußten nur nicht, welches Ausmaß das "anders" tatsächlich hatte, und mittlerweile taten sie alles, um auch das letzte Stück Siedlung, den letzten Streifen Wald und die letzte Ackerflur der früheren Grenzregion ihrem beschleunigten Lebenswandel anzupassen, und die wenigen, die im Harz und seinem Umland ab und zu einmal die Gelegenheit erhielten, urplötzlich an einen höchst fremdartigen Ort zu gelangen und dort noch seltsameren Bewohnern dieser Stelle zu begegnen, welche die ungewohnten Besucher vorsichtig, doch höflich willkommen hießen, bei blakendem Öllicht in verrußter Wirtsstube und zu deftigstem Hausbier – nun, derer wurden es seither noch weniger. Puh! Und dennoch mußten all diese Entwicklungen Flußkiesel sein, verglichen mit dem Anlaß, der einen Ratsgesandten zu Korukor, einem gewöhnlichen Brückentroll, zu führen vermochte.

"Was weißt du von Energielinien?" hatte der fremde Troll gefragt, der sich als Attakar vorgestellt hatte. Die Begrüßungsformalitäten waren schnell erledigt gewesen. Ihr Volk legte wenig Wert auf ausgefeilte Höflichkeitstechnik.

Korukor hatte von Attakar gehört. Der war ein alter Bär, was alle ernsthafte Beeinträchtigung ihrer Welt durch die Menschlinge anging. Er hatte sich vor allem mit ihren plumpen Methoden der Energiegewinnung befaßt und versucht herauszufinden, was sie im Geflecht der Dinge, das die Welt verband, anrichten mochten. Es hieß, er sei in Atomkraftwerken aus- und eingegangen und ganz alleine am Ausbau von mancherlei Sicherheitsstandards in diesen Anlagen schuld, weil seine versteckte Anwesenheit zu derart unerklärlichen Fehlermeldungen in den Warnsystemen der Menschlinge führten, daß sie immer mehr Geld in deren Aufklärung steckten.

"Ohne mich hätte es bereits mehr als einen dieser "GAUs" gegeben," sollte er gesagt haben, und darin habe keinerlei Ironie gelegen. Korukor konnte es sich vorstellen. Attakar war so trocken wie ein Flußbett nach zwei Sommern in einem Jahr. Er schien Sand auszuatmen, seine riesigen glühenden Augen hatten so einen Ausdruck, als habe er mehr gesehen, als selbst für einen Troll gut war, und er strahlte eine kaum beherrschte Anspannung aus, die verborgenem Wissen geschuldet war. Wer Trolle nicht kannte, merkte das nicht. Aber es gab auch nur wenige Wesen, ob Mensch oder andere, die sich die Zeit nahmen – und es wagten –, einen der Schwarzen gründlich zu mustern.

Sie saßen beim Tee, und Korukor versuchte die Frage zu beantworten. "Energielinien! Du lieber Erdhaufen! Nicht mehr als die meisten anderen hier herum, würde ich sagen. Das Nötigste. Zwischen den Orten der Macht gibt es Verbindungen, über die Magier besser Bescheid wissen. Dort strömt Energie wie der reißendste Fluß und doch zugleich durch ein Nadelöhr, hab ich mal einen von ihnen sagen hören. Das verstehe, wer will. Mir genügt, was an den Orten geschieht. Mir genügt die Kraft dort. Sie entspringt der Erde, und warum sie dann weiterströmt, weiß ich nicht. Es gibt Unglücke, wenn die Kurzlebigen, blind wie sie sind, solch eine Linie falsch kreuzen. Das, jedenfalls, passiert mir nicht. Ich spüre ihre Nähe."

"Das darfst du glauben!" polterte Attakar noch in Korukors letzte Worte hinein, und der wußte erst nicht recht, worauf sie sich bezogen. Aber der Gesandte fuhr unmittelbar fort: "Was du gesagt hast, ist nicht falsch, aber, wie du selbst bemerkt hast, es ist recht oberflächliches Wissen. Kein Vorwurf, kein Vorwurf. Du hast sogar den entscheidenden Punkt angeschnitten: was die Menschlinge tun! Und sie haben etwas getan. Wir wußten es schon lange und haben viel befürchtet – doch lange Zeit geschah nichts. Woran zu sehen ist, daß auch wir fehlerhaft sind, keine Frage. Ich könnte mir täglich Knoten in die Ohren drehen, von der Nase ganz zu schweigen, seit... Nun, du brauchst nicht alles zu wissen, ich bin zu dir gekommen, weil deine Laufkraft berühmt ist.

Es ist jedenfalls so, daß sie eines ihrer Atomkraftwerke, eins dieser hochnäsigen arroganten Eier aus Stein, auf eine der Großen Linien gebaut haben, vor 17 Jahren, um genau zu sein. Und jetzt reagiert sie. Jetzt, um genau zu sein, merken wir selbst erst, daß sie reagiert. Und diese Linie führt hinüber zum Als und weiter, und sie berührt den Heiligen Berg in der Als-Niederung, und dies so dicht, so hauchfein unter der Erdoberfläche, daß, nach allem, was sich hier schon tut – auch wenn ihr im Alltagstrott noch nichts davon bemerkt habt – zu befürchten steht, daß sich im Alstal ein Vulkan auftun wird. Obgleich dort kein vulkanisches Gebiet ist. Aber die Energie wird hinauf und hinunter gehen, in unfaßbare Tiefe. Und danach wird man den Ätna drunten im Süden unter die kleineren Vulkane rechnen dürfen, glaub mir. So ernst ist es. Stein und Holz, ich wünschte, ich könnte weit weg von hier sein, sehr weit, am liebsten auf einem andren Planeten, denn was die Kurzlebigen anstellen werden, wenn sie mit einer solchen Katastrophe konfrontiert werden, das mag ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen. Das ist beinahe noch das Schlimmste von allem!"

Attakar schwieg und nippte an seinem Tee. Wenig konnte furchterregender sein, über den Inhalt der Worte hinaus. Einer von ihnen, der sich derart zur Ruhe zwang, mußte am Nichtshang gewesen sein, dort, wo alle Vernunft endete und es nur noch das letzte Kollern und Stürzen gab, Aufbäumen des Körpers, doch sinnlos.

Dennoch bemerkte Korukor ruhig: "Trotz der Gerüchte: da ist zu wenig Aufregung im Land für solch ein Entsetzen. Das verstehe ich nicht."

"Die Menschlinge sind nicht nur dumm," sagte Attakar. "In manchen Bereichen haben sie erstaunlich kluge Bilder: Stell dir eine dieser Kurven vor, die sie so gern zeichnen, wenn sie ins Rechnen geraten: Sie verläuft lange fast grade, mit nur unmerklicher Steigung, dann aber, urplötzlich, schießt sie nach oben, unabsehbar, in kürzester Zeit. Sie haben Formeln für solche Vorgänge – was aber leider nicht heißt, daß sie diese Vorgänge häufig begriffen. Sie ahnen noch weniger als die sehenderen Völker. Und wir, ihr hier: sei froh, daß es so ist. Wir befinden uns am Grenzpunkt, mitten in der Beuge der Kurve, und wir kennen das Zeitraster nicht auf den Tag genau. Vielleicht kannst du noch ein paar geruhsame Nächte lang fein dein Bier in jenem hübschen Kreuzweggasthof schlürfen, in dem ich dich durchs Fenster erspähte, ehe ich hierherkam. Vielleicht bleiben uns auch noch zwei, drei Wöchelchen..."

"Und dann geht die Welt unter?"

Attakar runzelte die immens breite Stirn, was zur Folge hatte, daß sie regelrecht Wellen schlug. "Scherze sind kaum angebracht..." setzte er an, aber der Jüngere begegnete seinem Blick mit solch entwaffnender Offenheit, daß ihm eher noch klarer wurde, den Richtigen ausgesucht zu haben.

"Nein, das wird sie nicht," sagte er stattdessen. "Es gibt weit Schlimmeres. Wenn der Mensch sich zu retten versucht, bleibt oft noch weniger Erde am alten Platz. Aber auch unsere Welt könnte sich nicht absondern. Stell dir eine Linie der Macht vor, die schon entflammt ist und noch weiter aus aller Bahn gerät. Wir sind die, die sich der Alten Kräfte bedienen. Wir und andere, natürlich. Wir sind diesen Kräften nah. Du wirst es spüren, in deinem Blut, unter deiner Brücke, selbst wenn der Vulkan weit genug weg scheint und kein Mensch sich bei dir zu verkriechen versucht, und glaub' mir: es wird dir nicht gefallen."

Eine Zeitlang herrschte daraufhin Schweigen. Sie schlürften ihren Tee und schienen ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Schließlich fragte Korukor: "Und was habe ich dabei zu schaffen, daß du mir dies alles erzählst?"

Attakar sah ihn an: "Jemand muß zu ihnen eilen, die auf dem Heiligen Berg wohnen, der, wie du vielleicht weißt, in der Alten Sprache jener Schleife der Zeit ‚Kiren' genannt wird. Und er muß jene befragen, die sicher Bescheid wissen, doch anders als unsereins denken. Sie rufen nicht um Hilfe oder schreien auch nur Baumsturz und Steinbruch. Sie könnten wissen, was zu tun ist – wenn es nur irgendetwas gibt, das getan werden kann. Dazu will ich dich. Du bist gut; sag nichts dagegen, ich weiß es. Du sollst hinübergehen."

Jetzt durchfloß Korukor doch so etwas wie ein Schauder, obgleich er weiterhin Art und Ausmaß der Gefahr nicht wirklich zu begreifen vermochte. Die feine Porzellantasse, die er sorgsam mit den gekrümmten Nägeln zweier Finger umfaßt hielt, schwankte sogar leicht, und für sein Stilgefühl, was den Teegenuß anging, war das schon beinahe ein Sakrileg. Er grübelte gerne und ausdauernd, aber er spürte auch, daß dazu jetzt nicht der Ort war. Er dachte an den Findling im Wald, kaum einhundert Stäbe von seiner Behausung, der ihm Frieden gab, wenn er ihn nur vor sich sah. Sah ihn in diesem Augenblick erst wie durch sich seltsam bewegende Luft ganz verschwommen, doch dann wieder klar, unabgelenkt; fest im Boden lagernd.

"Es gibt Adler und andere Flugwesen..." Korukor fand zu seiner Ruhe zurück, die mehr als einen Troll schon ins genaue Gegenteil getrieben hatte, in blinde Raserei angesichts so beleidigender und unangebrachter Unbeeindrucktheit, doch Attakar gestattete sich sogar ein Lächeln. Er war wahrhaft ein alter Bär.

"Adler sind schwatzhaft. Sie schauen nur würdig drein. Weißt du das nicht? Es leben zu wenige hier herum. Wir brauchen keinen Boten, der die Nachricht mit seinem Schatten auf den Boden schreibt. Und außerdem: wenn ihr dort drüben verhandeln müßt, braucht ihr Ruhe und einen Friedort. Aber ich wüßte nicht, wo sich ein Adler mit den Uralten zusammen verkriechen könnte, um zu beraten. Laß die Adler ihre Kreise ziehn und belaste die kleineren Flugvölker nicht mit zu großen Dingen. So sehe ich das. Und jetzt sag mir, ob du bereit bist, Läufer!"

Korukor reckte sich langsam. Damit war das geklärt, und noch mehr. Ihn als Läufer anzureden, kam einem Befehl fast schon gleich, enthielt gerade den nötigsten Respekt vor seiner Person. Der Tee war noch nicht kalt, und schon hatte sein Leben eine erstaunliche Wende genommen. Ihrer aller Leben, womöglich. Sollte wohl keiner behaupten, nur die Kurzlebigen hätten mit Geschwindigkeit zu tun.

Das Spiel seiner Muskeln, dem Attakar aufmerksam folgte, ging in ein deutliches Nicken über. Und zum ersten Mal zeichnete sich daraufhin auf dessen Zügen ein Hauch von Erleichterung ab.

Er war bereit, sicher.

Und so war er gelaufen. War im Groben der Großen Linie gefolgt, teils weil es sich so ergab und teilweise auch, weil er sich einbildete, spüren zu können, wenn ein fremder unguter Stoß sich nach Osten bewegte – und er zu spät käme. Was würde er dann tun? Sich in den Boden wühlen und später, im Gekreisch und Getümmel der Menschlinge versuchen, nach Hause zurückzukehren? Er hatte sich das keinen Steinwurf lang gefragt. Solche Dinge verbarg die Zukunft aus gutem Grund, außer für die wenigen, die sich den Pfeilen der Zeit mit Erfahrung und Wissen zu stellen vermochten. Er lief. Trollarbeit. Manchmal hörten Menschen den Rhythmus, dachten an fernes ruhiges Trommeln, hielten inne, weil es auch fremd war. Doch es verklang rasch, und sie vergaßen es wieder.

Er durchschwamm den Ist abends, in strömendem bergendem Regen und fand sich jenseits der Menschengrenze in sichererem, dünner besiedeltem Land. Hier glaubten auch noch mehr der menschlichen Bewohner an seinesgleichen, auch wenn sie das nicht laut sagten, und traten eher in den Schatten zurück, wenn er vorbeieilte, als daß sie Zeter und Mordio schrien. So konnte er seiner Bahn ungehinderter folgen, setzte über Bäche, strich zwischen Gäulen auf ihrer Koppel hindurch, die ihn mit höflichem Wiehern grüßten, folgte Schwärmen von Elstern und Raben, die sich von der Linie eine Zeitlang lenken und anregen ließen, ehe sie mit hörbarem Bedauern in ihrem Kreischen und Zerfen anderswohin abschwenkten, und er kam dem Heiligen Berg immer näher.

Als er ihn dann endlich sah, im Sonnenglast eines heißen Nachmittags, blieb er wie vom Schlag getroffen stehen. Er kam um eine Waldkante, nachdem er das Dunkel der Bäume kurz zuvor verlassen hatte. Hier waren auch die verstreuten kleinen Gehölze verlassener als drüben, wo die Deutschen weiterhin regierten; er hatte den Tageslauf riskiert, als ihn ein Sonnenstrahl perfekt auf die Augen getroffen und geweckt hatte. Er war jetzt vier Tage unterwegs und ertrug die Anspannung kaum noch. Fast rechnete er damit, daß ihn der Ausbruch jenes unvorstellbaren Vulkans aus dem Schlaf reißen würde, unvorbereitet, und vielleicht würde er sterben, von zusammenstürzenden Bäumen erschlagen. Ein anderer Teil von ihm aber vermochte sich dies überhaupt nicht vorzustellen, und so hatte er bis zum Nachmittag wie aus Trotz inmitten eines Dickichts geschlafen. Doch die Sonne hatte ihn gefunden, und jetzt...

Es schien ihm so, als habe nicht er den Heiligen Berg erreicht, sondern dieser ihn. Ihm war – in aller Verunsicherung vollkommen klar! -, als habe er sich in den vergangenen Tagen keinen Steinwurf weit von der Stelle bewegt, habe nur gewartet – und um ihn veränderte sich das Land. Die Erde verschob sich und wandelte ihre Form. Flüsse kamen, umspielten seine Füße, nahmen ihn ganz in sich auf – und zerrannen wieder. Die Erde war fruchtbar, war kalt und weiß – wie konnte das sein, es waren doch nur ein paar Tage im Sommer?! -, war Feuer und Sturm – hatte er wahrhaft so heftig geträumt, daß ihm solche Phantasien durch den Kopf stießen? -, und lag im Nachmittagsfrieden hingebreitet wie eine vielfach geflickte Decke, nach altem Gebrauch duftend, wohltuend. Er erinnerte sich an Dinge, die er nie zuvor gesehen hatte!

Und all dies stand in Verbindung mit der ruhigen Silhouette des gar nicht sehr hohen Massivs, das sich da in einigen Zehnstäben Distanz aus der Ebene erhob. Er stand und wartete, daß der Berg noch näher käme, doch dann merkte er, daß er in seiner Bewegung – oder Illusion von Bewegung – es war nicht so wichtig, nur mußte er's tun – fortzufahren hatte, wollte er ans Ziel gelangen – oder dieses zu ihm.

‚Es ist die Sonne!' sagte er zu sich, während er sich träge wieder in Bewegung setzte (wer oder was bewegte sich wirklich?). Bei seinesgleichen war ein Sonnenstich äußerst selten, aber er war plötzlich bereit, fast alles zu glauben, sogar solche Schmach: ein Schwarzer, mit dem die Sonne ihr Spiel trieb.

Bald darauf, nachdem er mehrere Menschenstraßen fast ohne jede Vorsicht überquert hatte – mochten sie doch an ein riesiges Wildschwein denken, falls sie ihn aus der Ferne erblickten; ihm tat das nichts, die Blindheit der Menschlinge konnte ihn nicht kränken! –, kam ihm etwas anderes in den Sinn: war diese Verwirrung etwa ein Anzeichen der nahenden Katastrophe? Die Große Linie war nahe, das wußte er, und ihm war wohl bewußt, was für seltsame Dinge an Machtorten geschehen konnten. Und doch war dies hier anders: hier manifestierte sich nichts, hier wuchs keine Blume aus bloßem Stein, hier tanzte kein Einteilchen kosmischen Kobolz und verzauberte sie alle, ehe es wieder in seinen unendlich winzhaften Urzustand zurückkehrte, dem die Menschen in ihren Atomanlagen auf so plumpe und gewaltsame Weise beizukommen suchten – nein! hier wurde nichts, hier war etwas, und es war immer schon. An diesem Ort, dem er näherkam, ruhte etwas. Und plötzlich legte sich seine Angst.

Die restlichen Hundertstäbe legte er in gleichmäßigem Trab zurück, er achtete wieder stärker auf Deckung und Schatten und schreckte nur ein paar streunende Hunde am Rand eines Dorfes auf.

Am Fuße des Berges war ihm geradezu leicht zumute – als er den Adler traf.

Der große Vogel war ihm bereits eine Zeitlang weit über ihm bewußt gewesen, aber er hatte ihn nicht weiter beachtet. Es mochte hier welche des Luftvolkes geben, das hatte Attakar nicht bezweifelt. Aber der Adler stieß plötzlich nieder, ehe Korukor unter dem Dach des Hangwaldes verschwinden konnte, und er rief ihn mit Namen an.

"Was willst du?" knurrte der Troll.

"Welche Höflichkeit!" keckerte der Adler von dem schwankenden Ast einer alten Eiche herab, auf dem er sich, wenige Meter im Feld draußen, niedergelassen hatte.

"Du kennst meinen Namen, ich aber deinen nicht. Das könnte dich in Gefahr bringen."

"Ich wüßte nicht, wie das geschehen könnte," säuselte der Adler aufreizend. Er schlug mehrmals mit den Flügeln. "Ihr Winde, welche Erleichterung, sitzen zu können nach so einem Flug! – He, was fällt dir ein..."

Er kam gerade noch hoch, spürte die Pranken des Trolls noch über seine Klauen gleiten... wie war der nur so schnell herangekommen? Es hieß, Trolle verschmolzen mit der Erde, und sie spie sie am richtigen Ort wieder aus, aber...

"Was glaubst du, wer du bist?" kreischte der Adler, aber es klang längst nicht mehr so überheblich wie seine anfänglichen Worte. "Ich bin nicht den weiten Weg gekommen, um mich von dir schrecken zu lassen, Erdkriecher! Ich habe dir etwas zu sagen, und wenn du nicht von diesem Baum abläßt und mir die Ruhe verweigerst, dann such' ich mir anderswo einen Platz, und dann sieh doch zu, wie du erfährst, was geschehen ist..."

Korukor stand schweratmend unter der Eiche. Wäre er ausgeruht und frisch gewesen, dann hätte dieses Federvieh längst mehr als eine Feder verloren, von kundiger Hand aus dem Gefieder gezogen, nicht so, daß es ernsthaft verletzte, aber schmerzhaft und peinlich auf jeden Fall für solch eitles Volk, wie Adler es sind – und das Plappermaul da oben hätte längst ausgespuckt, was immer es meinte, zu sagen zu haben..

Aber in der langen Reihe det Scharmützel zwischen den beiden Völkern, die länger zurückreichten als die Erinnerung trug, hatte diesmal wohl die Seite der Krummschnäbel einen winzigen Sieg davongetragen. Korukor ging zum Waldsaum zurück. Der Adler beäugte ihn mißtrauisch, während er über ihm kreiste und hin und wieder empörte Krächzlaute von sich gab, dann aber landete er ein weiteres Mal auf dem Ast. Allerdings war er so adlergewahrsam auch nicht mehr, denn nur Korukor bemerkte, daß dieser Ast durch das Gewicht des Trolls, der sich eben zu ihm hinaufgeschwungen hatte, einen Bruch davongetragen hatte. Er senkte sich, ohne zu pendeln, hielt dann wieder stand...

"Was also plagt dich?" fragte der Troll übertrieben ruhig.

"Mich schickt einer von euch Schwarzen," antwortete der Adler ohne weitere Gebärden, "der allerdings wesentlich höflicher war als du. Attakar ist sein Name."

"Was will er?" fragte Korukor, ohne auf die neuerliche Beleidigung einzugehen.

"Du sollst deinen Weg zu Ende gehen, doch hat sich der Auftrag erledigt. Was in Bewegung geriet, kam zur Ruhe. Es ist nichts mehr. Freue dich, Muskelprotz."

Das hatte er auswendiggelernt und die letzten Worte gewiß eigenmächtig hinzugefügt. Jetzt würde er dieses Großmaul rupfen, bis es ihm die Wahrheit ohne auch nur den leisesten Anflug von Frechheit berichtete! Aber Korukor stand in Wirklichkeit da wie betäubt. Die Botschaft durchdrang seinen Zorn mit Mühe, aber sie tat es.

"Es..." begann er – was wußte der Adler? So gut wie nichts, vermutlich! Vorsichtig fuhr er fort: "Es besteht keine Gefahr mehr? Willst du mir das wirklich sagen?"

"Ich weiß von keiner Gefahr!" murrte der Adler. "Mir sagt man nichts. Ich hatte etwas gutzumachen, darum konnte ich den Auftrag nicht ablehnen. Mehr gibt es nicht zu sagen, nicht zu hören. Das soll ich dir wiederholen, wenn du – was Attakar offenbar ahnte – mir nicht glauben wolltest: Was in Bewegung geriet, kam zur Ruhe. Nicht daß ich wüßte, was das bedeuten soll! Aber wer versteht schon, wie ein Troll zu denken versucht..."

Diesmal entkam er nicht. Als der Ast endlich brach, kam er im automatischen Abstoßen nicht hoch, sondern flügelschlagend nach vorne, gerade auf Korukor zu, der den Ast regelrecht fixiert hatte, und dann spürte der unglückliche Adler eine gewaltige Faust um seinen Hals liegen, und vor seinem Schnabel wippte dieses häßliche Gesicht mit dem unsäglichen Nasengebilde in seiner Mitte feixend auf und ab. Der Adler hieb wild mit den Krallen um sich, als eine Feder zu Boden segelte, aber sein Widersacher hielt ihn nur weit von sich, und die Arme von Trollen sind unglücklicherweise im Verhältnis, wenn man sie mit den Extremitäten anderer Wesen, Menschen oder Elfen zum Beispiel, vergleicht, ebensolang wie ihre Nasen.

Der Adler wurde auf Abstand gehalten, bis er sich schließlich in sein Schicksal ergab. Nur seine Augen funkelten böse, als er sehr kleinlaut darum bat, freigelassen zu werden.

"Keine weitere Nachricht?" bekam er gefährlich leise zur Antwort. "Nichts, das du ausgelassen hättest, um es mir irgendwann noch halblaut und unverständlich nachzurufen? Ich rate dir, Federling, überlege gut, denn sonst bricht nicht nur ein Ast an diesem schönen Ort hier!"

Den Adler schauderte es sichtlich. Sehr tapfer war er kaum. Es gab solche seiner Art, die sich in die Geschichten der Welt, die nicht vergessen sind, eingeschrieben hatten, doch er trug nur das eindrucksvolle Kleid seines Volkes. Wie hatte sich Attakar bloß auf einen solchen Boten verlassen können?

"Nein!" stieß der große Vogel mühsam hervor. Er vermochte in seiner würdelosen Haltung mehr kaum zu sagen, und Korukor riskierte es, ihn loszulassen. Blieb aber dicht neben ihm stehen, die Fäuste zu neuerlichem Zugriff bereit. Der Adler keuchte und hustete eine Weile, machte jedoch keinen Fluchtversuch. Endlich bequemte er sich zu weiteren Worten:

"Ich habe dir alles gesagt. Kein Wort mehr war die Botschaft. Für einen Troll waren es wenige Worte. Das ist mir auch aufgefallen. Aber so war es. Und nun, wenn du gestattest, würde ich gerne diesen Ort verlassen, denn mein Auftrag ist beendet, und ich stehe unter dem Schutz der Boten, wie du hoffentlich nicht vergessen wirst."

Jetzt klang er nur noch erschöpft und ehrlich – und Recht hatte er auch. Es gab klare Gesetze, was die Überbringer von Nachrichten betraf. Korukor winkte beiläufig und wandte sich wortlos ab. Er spürte den Blick des Adlers in seinem Rücken – mochte er doch davon träumen, ihm jetzt den Hakenschnabel in den Rücken zu schlagen! -, dann hörte er unsicheres Flügelschlagen, und gleich darauf war er allein.

Allein und verlassen.

Unter den Bäumen des Waldsaumes setzte er sich nieder und verschmolz mit den Schatten. Jetzt hätte ein Mensch auf dem Weg vor den Bäumen vorbeilaufen können... und wenn er dazu noch die Augen geschlossen hätte, wäre des Kurzlebigen Blick vollends, selbst wenn er gespäht hätte, an ihm vorbeigeglitten. Das war Trollkunst. Steckte ihm im Blut wie den Menschen ihr rasender Verstand.

Den hätte er sich fast gewünscht, um seine durcheinandergehenden Gedanken zu ordnen. Sie vermochten, die Nacktdenker, wenn sie geübt waren, ungeheuer viel gleichzeitig zu erwägen – nur, daß sie ihre Anlage meist auf Belangloses, Abseitiges oder Gefährliches verschwendeten! Er fiel aus der Anspannung heraus, die ihn während des Laufs beherrscht hatte, und begriff erst jetzt, wie stark sie gewesen war. Es gab keine Katastrophe – wenigstens nicht in nächster Zukunft! –, und er sollte sich eigentlich erleichtert fühlen, was jedoch nicht der Fall war. Was geschah hier? Was war geschehen? Er zweifelte nicht daran, daß Attakar eine reale Gefahr erkannt hatte. Derartige Gefahren lösten sich nicht einfach in nichts auf!

Er spürte eine seltsame Bedrohung – hinter der Bedrohung gewissermaßen. Genauer ließ sich das Gefühl nicht fassen, es war nur ein flüchtiger Hauch: als verberge sich hinter jener fatalen Aktivierung der Großen Linie noch etwas ganz anderes. Aber es blieb vollkommen unklar, welchen Charakter diese andere... Bedrohung besaß.

"Bin ich ein Nachdenker?" murrte er vor sich hin. "Habe ich das zu ergründen? Ich bin auch nur ein Bote und sollte berichten und anhören, was hier dazu gesagt würde, und dann zurückkehren, oder?"

Aber er stand da mit leeren Händen.

Seltsamerweise war der Berg anderer Ansicht.

Der Kiren erhob sich in seinem Rücken. Er lehnte an ihm. Sie hatten sich also gefunden – nun ja, wenn er an seine eigentümlichen Wahrnehmungen dachte, dann hatte der Berg ihn, Korukor, der irgendwo außerhalb der Welt gebannt stand, einfach erreicht, und das war sicherlich genau nach der Absicht des Berges geschehen. Welche Form von Leben besaß ein Berg? Es gab Steine, die träumten, und seiner geliebten Brücke, unter der seine Wohnung lag, war seine Anwesenheit wohl bewußt. Er kannte ihr lustvolles Ächzen, das ihn so wunderbar in den Schlaf zu wiegen vermochte, wenn die Menschlinge achtlos über sie fuhren.

Ein Berg war so groß. Jetzt schauderte es ihn geradezu! Doch der Heilige Berg war alles andere als Donnergetose. Da war nur etwas, kein wirklicher Gedanke, das immerhin kannte er irgend vom Stein, eher ein Bild, etwas zum Greifen in seinem Innern, das vorher nicht dagewesen war, und dieses fremde Etwas – nicht unangenehm, nein, fast schüchtern, als sei es sich seines Eindringens bewußt und schätze die Notwendigkeit nicht – zeigte ihm einen Weg: hinauf auf den Gipfel. Dort waren Sie. Er sah sich zu ihnen gehen.

Nun gut. Wenn auch er keine Nachricht mehr hatte, vielleicht hatten sie eine, die er zurücktragen könnte. Er war noch nicht müde. Er erhob sich und begann, wie es Trollart ist, wenn sie sich entschieden haben, ohne Weiteres den Aufstieg.

Seine Unruhe legte sich nicht. Auch seine Laune wurde eher noch schlechter, je höher er kam. Er mochte es ganz und gar nicht, derart im Unklaren zu sein. Er brauchte Boden unter den Füßen, und obgleich der Berg ihn sicher höher und höher führte, auf abgelegenen Pfaden, durch weniger dichtes Gehölz und vorbei an gewaltigen Findlingen, die, je weiter hinauf er kam, um so häufiger wurden, kam er sich vor, als bewege er sich in leerem Raum, als schwebte er wie ein verdammter Adler, doch ohne Flügel und damit ohne die Möglichkeit, seinen Flug kontrollieren und lenken zu können. Er sah nichts vom Berg, bis er oben war.

(wird fortgesetzt)