Besuch auf dem Zobten

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Zwei Eminin hockten ganz oben auf dem Zobten, der weit längere Zeit bereits Kiren heißt, auf der höchsten Plattform des altersschwachen Aussichtsturms, und schauten nach Osten, hinaus auf die weite Ebene Niederschlesiens. Sie konnten Breslau in der Ferne sehen, obgleich ihre Augen nicht mehr so scharf waren, wie sie es in ihrer Jugend gewesen sein mußten. Darüber stritten die beiden gerne, denn sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Damals hatte es nämlich eine Stadt namens Breslau noch nicht gegeben, und so bestand die Behauptung des einen Eminin darin zu sagen: "Ich hätte die Stadt sehen können. Ganz gewiß hätte ich sie sehen können." Während seine Gefährtin milde entgegnete: "Das kann sein, aber es kann auch nicht sein." Was ihn nach all den Jahrhunderten menschlicher Zeitrechnung immer noch in gelinden Zorn versetzen konnte – denn darin sind die Eminin den Menschen ähnlicher, als sie gern glauben möchten – und ihn beleidigt knurren ließ: "Sein oder nicht sein! Das ist nicht erst seit diesem jungen Engländer die Frage. Doch in diesem Fall trügt die Erinnerung mich nicht: Ich sehe das Waldland vor mir, das sich dort im Oderbruch erstreckte. Ich sehe die Bäume sich im Wind wiegen, von keines Kurzlebigen Axt bedroht. Ich rieche den Duft der Erde, der Blätter, des Holzes, von keinem ihrer grobschlächtigen Feuer und dem Gestank ihrer Bratereien verdrängt. Oh, ich sehe sogar die silbernen Windungen des Großen Flusses – obgleich, das will ich zugestehen, dies ein Spiel meiner Phantasie sein mag. Ich kenne den Wald, wie er war und wiederkehren wird, und genau dort standen große Weiden und Erlen und viele Eichen."

Die Einschränkung mit dem Großen Fluß fügte der Eminin gerne ein, um glaubwürdiger zu erscheinen, aber letztendlich war diese ganze Unterhaltung ein uraltes Spiel, dessen Regeln sich kaum änderten, und er wußte natürlich, was als Antwort folgen würde: "Wie großzügig er ist, lobet den Erdgeist! Der Fluß ist seiner Phantasie entsprungen! Mögen dich die Wälder mit fallenden Ästen und die Erde mit Löchern für deine großen Füße strafen, Iksa, denn deine Schamlosigkeit ist nicht geringer geworden." Die Eminin, kaum größer als ihr Gefährte, richtete sich für einen Augenblick aus der bequemen Hockstellung auf und schnüffelte, frei auf dem Geländer der Plattform stehend, in der Dämmerungsluft dieses frühen Sommerabends. "Wir bekommen Besuch," stellte sie dann ruhig fest und knickte wieder geschmeidig in die Sitzposition zurück.

Sie hockten dort oben wie Zweigbüschel, die ein Sturm über den Berg gefegt hatte und die sich auf dem Geländer der obersten Brüstung des Turms verfangen haben mußten. Nicht daß jemand die beiden gesehen hätte. Nicht, daß die beiden dies nicht rechtzeitig gemerkt haben würden, woraufhin sie verschwunden wären. Nicht daß es etwas ausgemacht hätte, wenn jemand irgendwelche Zweigbüschel auf der Höhe des alten Aussichtsturms auf dem Zobten gesehen und sich gewundert hätte. Solche Zeiten waren längst vergangen.

Heute war dagegen eine Zeit, da ein Eminin wie Iksa sogar einen der menschlichen Namen des Großen Flusses verwendete, statt des eigenen, wahrhaftigen Namen, Als, den der Strom viel länger trug, als des Menschen Erinnerung reicht. Das fiel seiner Gefährtin auch auf, nachdem sie eine Zeitlang schweigend gesessen und der Sonne, wie es unter ihresgleichen heißt, "ein wenig beim Niedergehen geholfen hatten". So selbstverständlich waren Menschenbegriffe nun auch nicht, zumal in Iksas Rede, denn der alte Blätterling war ungeachtet seiner Angebereien jemand, der die Kreise der Zeit kannte und die Orte, welche Dingen und Namen zukamen.

"Oder!" sagte die Eminin schließlich, wie nebenbei.

"Oder die Dinge ändern sich anderswo," kam es leichthin zurück. "Wo ich tatsächlich nichts sah, Eliko, nach Westen hin, weit weit fort, kommt eine Klarheit wie ein Lichtstoß, und sie bricht sich an diesem Berg und verklingt dort drüben im Fluß. Wir sollten unseren Besucher wirklich anhören, meinst du nicht auch?"

Sie raschelten beide, was einem Lachen gleichkam.

"Ihn anhören und hierbleiben, meinst du nicht auch?" sagte Eliko dann, und das Gespinst der Bedeutungen, dessen sie inzwischen gewahr geworden war, glitt näher um sie beide. "Sowohl als auch, kluger Mann, nicht wahr?" Und sie sprach das erste Wort in jener unlängst verlorenen Sprache des Landes aus und auch das dritte, das zweite jedoch, obwohl es nicht so scheinen mußte, war der wahre Name des Großen Flusses, aber Iksa hörte natürlich die Betonung, die seine Gefährtin verwendete, und die Worte verschlangen sich im dahinfließenden Spiel, ohne erkennbare Absicht, nicht einmal für die Eminin.

"Und das ist nur der Anfang," murmelte er.

Oh ja, er ahnte etwas. Wäre sonst auch nicht Iksa gewesen.

Jetzt knickten Blätter im Wald unter ihnen, auf hartem breitem Menschenpfad, und ein Grollen war zu hören, wie von jemand, der beträchtlich schlechte Laune hatte und dies nicht verbarg. Sie sahen sich an. Raschelten dann wieder. Warteten in der Dämmerung.